Erleuchtung, nein Danke!

Als ich vor 20 Jahren, aus Neugier, einem Satsanglehrer lauschte, wusste ich, dass ich niemals „erleuchtet“ sein wollte.

Mein inneres Bild vom Sinn und Ziel des Lebens war ein ganz anderes. Ich sah die Welt als große Bühne und mein Leben als eine Art selbst inszeniertes Theaterstück, innerhalb anderer Theaterstücke. Ein gigantisches Spiel, was gespielt wurde – einfach um Erfahrungen zu ermöglichen. Ich stellte mir vor, dass „Alles was ist“, oder „das Eine“ oder „Gott“ irgendwann mal aus dem Ganzen, der Leere, dem großen Nichts - in die Vielheit gefallen war (Urknall) – wodurch Trennung entstand und wodurch Vielfalt möglich wurde. Das alles geschah extra, um alles erfahrbar zu machen, was zu erfahren möglich war.

Genau auf diese Erfahrungen und das, was sie mit mir machten, wie sie sich anfühlten, was für Erkenntnisse sie mir brachten – war ich neugierig.

Ich liebte dieses Bewegt sein durch Emotionen, dieses Auf und Ab. Mir gefiel es zu sehen, wie schnell die Lebensbühne sich von sonnig in wolkig und umgekehrt verwandeln konnte. Die Vorstellung, all das wäre „Nichts“ und alle Emotionen würden von mir abfallen – fand ich wenig verlockend.

„Wenn du erwacht oder erleuchtet bist,“ so sprach der Lehrer, „da ist da nichts mehr was dein Gemüt erhitzen könnte. Dann ist da nur noch Leere, Frieden und Glückseeligkeit. Alles Urteilen hört auf, alle Angst hört auf, alle Gedanken hören auf, all das Getrenntsein hört auf, aller Kampf und Widerstand hört auf, alles Rechthaben wollen hört auf, Begeisterung, Leidenschaft und Sehnsucht hören auf – da ist nur stille Freude, einfach Sein.“

Ich fragte mich, wie wohl andere Menschen das Leben empfanden, wenn sie so scharf darauf waren, all das, was meiner Meinung nach dieses Erdenleben ausmachte – gegen so genannte „Erleuchtung“ einzutauschen, um nur noch zu Sein. Die ganze unglaubliche, herrliche Fülle des Lebens und Erlebens einzutauschen gegen „Nichts“ – da müsste ich doch völlig verrückt sein.

 

Da wurde mir wieder mal klar, dass nicht alle Menschen die Welt und das Leben so wahrnahmen wie ich. Mir war schon länger bewusst, dass wir Menschen alle sehr unterschiedlich waren und jeder Mensch in gewissem Sinne seine ganz eigene Realität erlebte. Aber hier schien es mir um etwas viel Grundsätzlicheres zu gehen, was da verschieden war – zwischen mir und den vielen Menschen, die nach Erleuchtung strebten.

 

Schon als Kind hatte ich die Fragen: Warum bin ich hier? Warum ist überhaupt „Etwas“? Mir war, als hätte das alles einen Sinn, an den sich aber scheinbar niemand erinnern konnte – am wenigsten die Erwachsenen.

Alles, was ich spannend fand, aus Mythen, Märchen und Geschichten, sollte bloße Phantasie sein. Die ersten Jahre taten alle Erwachsenen viel dafür, uns Kindern glauben zu machen, dass es einen Weihnachtsmann und einen Osterhasen gäbe, einen Klapperstorch, der die Kinder brachte und waas weiß ich nicht noch alles für Unsinn. Später lachten sie mich aus, wenn ich Dinge glaubte, die meiner Phantasie und meiner ganz individuellen Wahrnehmung entsprangen und waren sehr bemüht, mir alles, ihrer Meinung nach Unrealistische, auszureden. Warum kamen mir aber dann meine Mitwelt und deren Werte und Sichtweisen oft so skurril und fremd vor und warum erzeugte das, was angeblich reine Phantasie war, in mir oft viel tiefere Resonanz?

Warum waren meine Erlebnisse in meinen Träumen und deren Phantasiewelten so viel leuchtender und wirklicher und prägender, als die in der s.g. realen Welt?

Es gab immer wieder Phasen in meinem Leben, da waren meine Erlebnisse außerhalb der realen Welt viel realer für mich, als alles andere und ich kam völlig durcheinander. Oft konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob ich dies oder das „geträumt“ oder erlebt hatte – weil meine Träume kraftvoller und echter schienen, als mein Leben. Was war denn nun mein wirkliches Leben?

 

Ich stellte auch fest, dass sehr verschiedene Wahrnehmungszustände und Arten zu Träumen gab und hatte dafür aber keine anderen Worte – als Traum, oder Phantasie.

 

Meine Eltern waren sich einig, dass Träume keinerlei Realität hatten. Träume waren nur Unsinn, den sich unser Unterbewusstsein im Schlaf zusammenbraute.

Damals kam ich nicht auf den Gedanken, dass meine Eltern vielleicht eine völlig andere Art zu träumen hatten und sie deshalb keine Vorstellung haben konnten, von dem, was ich alles erlebte, wenn mein Körper ganz still war und real nichts passierte. Doch ich fand auch außerhalb von meiner Familie keine Menschen, die Träume so real empfanden wie ich – sondern sie schienen sich alle einig zu sein, dass Träume nur Phantasie, nur seltsame Geschichten waren und vor allem nur im Schlaf passierten. Viele träumten auch gar nichts, konnten sich an nichts erinnern und stempelten mich als „Märchentante“ ab, die sich Geschichten ausdenkt, um sich wichtig zu machen. Also versuchte ich, so gut es ging, das auch so zu betrachten und fühlte mich oft krankhaft verrückt, wenn es mir nicht gelang. Ich hatte dann Angst, dass mit mir etwas nicht stimmte und fing an, meine Ausflüge in die Phantasiewelten zu fürchten. Denn das dort Erlebte brachte regelmäßig meine gesamte Wahrnehmung von mir selbst und von meinem Alltag durcheinander.

Ich hasste es, wenn Bilder auftauchten, Erinnerungen und ich nicht mehr zu sagen wusste – aus welcher Welt sie kamen. Schließlich konnte ich nicht etwas, was ich nur „geträumt“ hatte, als Wahrheit erzählen – weil ich dann gelogen hätte und Lügen war in unserer Familie etwas ganz sträfliches. Aber was sollte ich tun, wenn die Grenzen total verschwammen?

 

Als ich Jungpionierin war, zwischen 7 und 10 Jahren, begann ich mich für „Gott“ zu interessieren, weil ich die Hoffnung hatte, dass meine Erlebnisse in anderen Realitäten, als der allgemein Anerkannten – vielleicht mit Gott zu tun haben könnten. Denn alles, was ich von „Gott“ wusste erschien mir außerhalb der gültigen Realität. Das Seltsame war allerdings, dass es viele Erwachsene zu geben schien, die dieses Phantasiemärchen von Gott ernst nahmen und niemand lachte sie deshalb aus. Im Gegenteil, die erzählten diese Märchen sogar im Fernsehen, da war zum Beispiel der Papst, der schien mächtiger als so mancher Politiker. Für mich war das unfassbar. Das Verrückte daran war, dass die anderen Menschen und auch meine Eltern, das alles ganz normal zu finden schienen. So als stellten sie sich niemals die Frage, wie das denn sein konnte?

Wer war also Gott? Warum gab es Menschen, die an ihn glaubten? Und was hatte es zu bedeuten, an Jesus zu glauben, der angeblich vor weit über 1900 Jahren gelebt hatte. Hatte er überhaupt gelebt, oder hatte sich jemand diese ganze Geschichte ausgedacht? Hatte vielleicht nur jemand so viel Phantasie wie ich und so reale Träume? Oder gab es eine Zeit, in der alle Menschen reale Träume hatten und alle das Gleiche geträumt hatten und deshalb davon überzeugt waren, dass es real war? War Jesus Gott? Nein, Jesus war Gottes Sohn. Aber meine Oma betete: “Vater, der du bist im Himmel...“ und meinte damit Gott, aber sie sagte, sie bete zu Jesus unserem Herrn. Da sollte sich noch jemand auskennen. Umso mehr ich versuchte zu verstehen, umso mehr verwirrte mich das Ganze. Jesus wäre nicht gestorben, wie alle anderen Menschen, sondern in den Himmel gefahren und würde dort über uns wachen und wir Menschen wären alle Kinder Gottes.

Ich dachte mir damals, dass wir ja dann alle wie „Jesus“ wären, merkte aber bald, das da was nicht stimmen konnte. Denn es wurde eindeutig so getan, als wären die Menschen arme Sünder und Jesus war ein Held. Also war Gottes Kind nicht gleich Gottes Kind. Gleichzeitig wurde behauptet, der Mensch wäre der Größte und müsse sich die Erde Untertan machen.

Diese Ansichten und Erklärungen, von Erwachsenen Menschen stürzten mich in tiefe Zweifel. Wie konnte es sein, dass niemand sich auskannte? Wie konnte es sein, dass Gott und der Glaube an ihn, für die einen ihr ganzes Leben bestimmte und andere fest davon überzeugt waren, dass es völliger Blödsinn wäre, dass da jemand im Himmel wohnte und alles hörte und alles sehe und für alles die Verantwortung trüge.

Mein Gefühl war, dass überhaupt nichts davon stimmte, das alles der reinste Unsinn war – doch wie war das möglich? Waren die Menschen alle wahnsinnig?

Oder war ich selbst nicht ganz richtig? Da es für all diesen Blödsinn jeweils sehr viele, sehr ernsthafte Vertreter gab, die in der Öffentlichkeit sprachen und schrieben und Politik machten – zweifelte ich natürlich an mir selbst.

Meine Mutter konnte mir meine vielen Fragen auch nicht recht beantworten, doch sie sagte mir, dass Gott in jedem Menschen wohne.

 

Ich lebte in der DDR, mein Gefühl war, dass bei uns fast niemand an Gott glaubte – außer ein paar ältere Menschen. Selbst meine Oma mütterlicherseits, zu der ab und zu ein Diakon nach Hause kam, um mit ihr zu beten, wirkte auf mich sehr wenig überzeugend gläubig. Sie konnte mir nichts sagen, was Gott für mich realer oder verständlicher gemacht hätte. Das enttäuschte mich und verwunderte mich. Warum betete sie, wenn ihr jeder echte Bezug dazu fehlte? Mein Gefühl war, sie betete und ging ab und zu in die Kirche, weil man es ihr so beigebracht hatte und weil sie dachte, sie müsste das tun. So wie auch ich in die Schule ging und zum Pioniernachmittag. So wie ich am ersten 1. Mai, stolz mit weißen Kniestrümpfen und Sommerkleid zum Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse ging und fähnchenschwenkend mit tausenden Menschen durch die Strassen marschierte. Es gab keinen innerlichen Bezug dazu, ich hab es bis heute nicht verstanden, worum es dabei eigentlich ging. Aber ich wusste, ich tat es schon immer, schon als Kleinkind, auf den Schultern meines Vaters. Es wurde so von allen so getan, als wäre es ein Fest und doch spürte ich, dass die Leute hauptsächlich froh waren, nicht arbeiten zu müssen und jeder ganz schnell nach Hause wollte. Und ich erinnere mich, dass alle, wirklich alle gehen mussten. Man musste einen Krankenschein vorlegen, oder eine ähnlich deutliche Entschuldigung, wenn man nicht teilnehmen konnte. Einfaches unentschuldigtes Fehlen wurde als schwerer Disziplinverstoß bewertet. Und weil keiner diesen Stress wollte, gingen alle hin. Vielleicht betete meine Oma deshalb, ich wusste es nicht genau.

 

Das sozialistische System, der Staat, war nicht an dieser Art Phantasiegeschichten über Gott interessiert, sondern war auf die Schaffung von „Gutmenschen“ ausgerichtet - fleißig, treu, gehorsam, ehrlich, dankbar, anspruchslos, hilfsbereit. Der Vater Staat und dessen Errungenschaften, sowie kommunistische Helden wie Lenin und Karl Marx – waren das, was verehrt und bejubelt werden sollte, deren Ideen mit Hingabe und Vertrauen gedient werden sollte, nicht irgendeinem Gott. Dem Staat war weder daran gelegen, die Phantasie in seinem Volk zu nähren, noch selbständiges Denken und Fühlen oder eigenverantwortliches Handeln in den Menschenseelen zu fördern. Peter Maffay besang das ganz wunderbar im Lied der Ameisen aus „Tabaluga“, da hieß es: „Der Einzelne braucht nicht zu denken, wenn die Führung funktioniert. Dieses Glücksgefühl zu schenken, wird vom Staate garantiert.“ Aber das war jetzt ein Zeitsprung, denn dieses Lied hörte ich erst Jahre später, als ich schon Mutter einer Tochter war und es keine DDR mehr gab. Doch es erinnerte mich, an Gefühle aus meiner Kinderzeit. Sowie an die Frage, ob man selber denken darf, oder ob es einzig darum geht, den Erwartungen und Befehlen der Vorgesetzten, Eltern, Lehrer u.s.w. zu gehorchen und dem gerecht zu werden.

 

Diese Thematik bestimmte viele Fragen meines Lebens. Wer war ich, wer sollte ich sein, wer oder was sollte/wollte ich werden? Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wenn ich meinem Vater glaubte, hatte ich keine Wahl, da war klar, jeder musste so sein, wie die Gesellschaft es verlangte. Diese Regeln kannte ich ja und ich hatte auch lange genug trainiert, um zu wissen, dass ich das drauf hab, falls nötig. Aber meine Seele würde dabei verhungern und ich wusste, dass konnte es einfach nicht sein.

 

Immer wieder glaubte ich, mich festlegen und entscheiden zu müssen, welcher meiner Realitäten, meiner inneren und äußeren Welten ich folgen sollte. Denn ein „Weltbild“ in dem alles sein durfte, was auftauchte, war weder in mir noch im Außen vorhanden. Wo fand ich nur die Zugehörigkeit, die es scheinbar zu finden galt? Wenn ich mich umschaute sah ich, dass die meisten Menschen sich selber in bestimmte „Schubladen“ steckten. Sie sagten dann von sich, sie wären Fußballer, oder Philosophen, Christen, Panks, Kommunisten, Arbeiter, Aussteiger, Feministinnen, Buddhisten, Hausfrauen und vieles mehr. So sehr ich zu erkennen suchte, in welche Schublade ich wohl gehörte, stellte ich nur immer wieder fest – dass nichts von den vielen Aufschriften für mich passte. Es fühlte sich eher so an, als fand ich überall ein Fünkchen meiner eigenen Wahrheit, aber zu keiner Sache konnte ich mich wirklich zugehörig fühlen. Egal was es war, es schien mir immer nur ein ganz kleiner Teil zu sein, von allem was es gibt und es fehlten dabei immer die vielen anderen Teile, die mich noch ausmachten.

 

Ich nahm Zusammenhänge wahr, die ich mit Worten gar nicht ausdrücken konnte, ich wunderte mich oft, ich machte unerklärliche Erfahrungen, jenseits des gesellschaftlich Üblichen und des für andere Offensichtlichen. So stand ich mit einem weiten Spagat auf der Erde. Das eine Bein in der s.g. Realität, die ich auch mit meiner Familie und Freunden und der breiten Masse teilte, das andere Bein in Welten, die völlig anders waren und die ich selbst als Phantasiewelten empfand, weil ich keine andere Möglichkeit hatte, anderes darüber zu empfinden. Mein Vater hatte, bezüglich meiner Phantasie, eine recht abwertende Art, sich über diesen Unsinn – wie er das nannte, auszulassen. Das trieb mich dazu, dass ich selber glaubte, es ist bedauerlich, wenn nicht sogar krankhaft oder schädlich, solche Phantasiewelten und Empfindungen zu haben. Er war der Meinung, das würde mich nur vom Leben ablenken und schließlich wäre das Leben ja kein Kinofilm, und auch kein Roman, sondern ernst. Schließlich könne ich ja nicht einfach machen was ich wollte, sondern müsste meine Pflicht erfüllen, wie jeder andere auch, alles andere wären doch Hirngespinste.

 

Ich sehe mich noch heute, wie ich in meinem Bett lag, ich denke ich war ungefähr acht oder neun Jahre und ich wünschte mir sehnlichst alles erleben zu dürfen, was man nur erleben kann. Ich betete zu Gott, obwohl ich gar nicht wusste, wer oder was das nun sein sollte. Ich bat: „Lieber Gott, liebes Leben, lass mich alles erleben, alles Gute und alles Schlechte.“ Genau das war mein Wunsch, ich sehnte mich nach lebendigem Ausdruck, nach allem, was das Leben ausmacht. Nach schmerzlichen Erfahrungen, nach Katastrophen, einem gebrochenen Bein und Verlust genau so sehr, wie nach Glück und Reichtum und Liebe. Da war keine Angst vor irgendetwas in mir. Da war nichts, was davon überzeugt war, dass es nur gut ist, schöne Erfahrungen zu machen.

Die Erfahrung an sich, egal welcher Art – war für mich das Erstrebenswerte. Das war zu einer Zeit, in der mir klar wurde, dass es auch in der realen Welt viel mehr gab, als das, was ich aus meiner Familie und meiner nahen Umgebung kannte.

 

Damals fuhr ich schon alleine Straßenbahn und mein Staunen nahm gar kein Ende, was ich da alles zu Ohren bekam. Ich lauschte den Gesprächen von jung und alt und ich stellte fest, dass alles, was ich bisher dachte über das Leben, entweder falsch war, oder nur ein winziger Teil von allem, was möglich ist.

Vor allem entsetzen mich die Gespräche von vielen Erwachsenen. Doch wenn ich nun beschreiben will, was mich daran so entsetze, finde ich gar keine Worte. Vielleicht könnte man es so sagen, ich glaubte, Erwachsene wären grundsätzlich Respektspersonen, hätten all die guten Eigenschaften und Tugenden, die wir Kinder erst noch lernen mussten – denn so erlebte ich meine Eltern und die Lehrer und Erzier. Ich bildete mir ein, ganz gut verstanden zu haben, was von mir erwartet wurde und versuchte auch, dem so gut ich konnte zu entsprechen – fleißig, ehrlich, gehorsam, bescheiden, hilfsbereit, umsichtig. Ich sollte nicht petzen, nicht schlecht über andere sprechen, dankbar sein für alles was ich hatte und bekam. Dafür dass ich in die Schule gehen durfte (musste), nicht hungern und frieren musste und eine Familie hatte, die mich liebte.

Einfach ausgedrückt, ich sollte mich benehmen und meinen Eltern keine Schande machen, also auf keinen Fall etwas tun, was sie nicht toll fanden. „Benehmen“ - was für ein Wort – es sagt eigentlich – ich sollte mir das was für mich gut ist nehmen. Aber so wurde das Wort nicht verwendet – ich sollte den Erwartungen meiner „Vorgesetzten“ entsprechen, das war damit gemeint. Und ich war wirklich recht genial darin, genau zu wissen, wer was von mir wie und wann erwartete. Es war wie eine Art Sport für mich, bevor überhaupt etwas ausgesprochen wurde, schon zu entsprechen.

Bevor meine Mutter sagen konnte „Räum doch bitte mal den Tisch ab.“ Oder „Bring mir doch mal die Milch.“ Hatte ich das schon gemacht. Wenn mir das mal nicht gelang, litt ich sehr, denn es machte mir dann keinen Spaß mehr. Ich erfüllte die unausgesprochenen Befehle mit Freude – aber die ausgesprochenen mit Widerwillen und Selbstvorwürfen – es nicht vorher gespürt zu haben.

 

Mein Gefühl in der Straßenbahn war also insofern schockierend, als mir klar wurde, dass die meisten Erwachsenen selber weit davon entfernt waren, sich zu benehmen, zu spüren, was von ihnen erwartet wurde und das zu befolgen. Die Art wie sie sprachen und was sie sprachen, zeigte mir tiefste Abgründe des menschlichen Daseins, die ich bis dahin gar nicht für möglich gehalten hatte – in meinem wohl behüteten Elternhaus. Aber ich erkannte auch Dimensionen und Möglichkeiten, das Leben zu leben – die ich viel größer und besser empfand, als das, was mir bisher als erlaubt, machbar und möglich erschien.

Bisher dachte ich, meine Eltern wüssten fast alles und plötzlich erschien es mir so klein und eng – was sie wussten und was sie für Vorstellungen vom Leben hatten.

Es war so, als öffneten sich ganz neue Dimensionen in der realen Welt, die mich neugierig machten, die ich unbedingt selber erleben und erfahren wollte.

Vielleicht keimte die Hoffung in mir auf, dass die Welt und das Leben doch größer und tragfähiger waren, als ich vorher dachte und dass ich in ECHT viel mehr machen konnte und erleben konnte und meine Phantasiewelten gar nicht so weit entfernt waren, vom realen Leben. Vielleicht würde es mir nun gelingen, mit dem Träumen aufzuhören und einfach alles in Wirklichkeit zu erleben.

 

Doch so sehr ich mich auch bemühte, meinen Spagat zu beenden und mein Bein aus der so genannten Phantasiewelt zu ziehen, es gelang mir nicht. Aber ich lernte mehr und mehr wenigstens so zu tun, als ob ich mit beiden Beinen in dieser allgemein anerkannten Realität stehen würde, weil das mein Leben mit den Mitmenschen einfacher machte. Und – welch Wunder, manches mal vergaß ich sogar selber, dass ich noch andere „Welten“ in mir hatte – so sehr verdrängte ich alles, was mit meinen Erfahrungen und Wahrnehmungen zu tun hatte, die von meinem „Phantasieweltenbein“ kamen.

 

Umso krasser erschütterte es mich, wenn Dinge in meinen „Träumen“ geschahen, die so heftig waren, dass ich sie nicht verdrängen konnte. An dieser Stelle lasse ich die Kinderzeit aus, weil sich da so vieles vermischt, dass ich auch heute nicht genau sagen könnte, was war Traum und was war Wirklichkeit. Aber ich erinnere mich genau an Ohnmachtsgefühle – weil ich nicht wusste, war ich verrückt oder war die Welt verrückt.

Ich glaube ich war 13 oder 14 Jahre, da hatte ich das erste Praktikum in einem Betrieb bei GRW-Teltow, dort wurden unter anderem Radios hergestellt.

Um 6.30 Uhr begann die Arbeit und um 16 Uhr durfte jeder wieder nach Hause gehen. Es wurden in Akkordarbeit Leiterplatten bestückt und andere Teile zusammen montiert. Ich war neugierig und auch stolz, dass ich nun schon so groß war, dass ich in einen Betrieb durfte und arbeiten. Doch als ich da war, als ich die Menschen sah, die dort arbeiteten, was sie taten, wie sie es taten und was sie redeten, war ich fassungslos. Ich sah die Leben der einzelnen Leute vor mir, sah sie nach der Arbeit in den Konsum hetzen, dann ihre Kinder aus dem Kindergarten holen, schnell was zu essen machen, Kinder ins Bett bringen, putzen, waschen, sich mit Alkohol und Fernsehen zu betäuben und dann einzuschlafen. Um dann am nächsten Morgen wieder 6 Uhr aufzustehen, schnell Frühstück zu machen, die Kinder wegzuschaffen und zur Arbeit zu gehen. Dort tausende male den gleichen Handgriff zu tun, die Leiterplatte mit einer Diode bestücken, bis endlich Feierabend war und dann das Spiel von Neuem los ging. Mich erschütterten diese gefühlten Zusammenhänge, die ich damals gar nicht genau begreifen und beschreiben konnte so tief, dass ich fix und fertig war und am Abend meinen Eltern davon erzählte. Beide hörten mir kurz zu und sagten dann einstimmig: „Tja, da siehst du endlich mal, wie das Leben ist. Was hattest du dir denn vorgestellt? Jeder muss doch arbeiten und früh aufstehen, das ist doch ganz normal. Das Leben ist eben kein Zuckerschlecken. Es gibt ja noch die Wochenenden, da hat man dann Zeit, etwas Schönes zu tun.“ Ich merkte, dass sie mir gar nicht zugehört hatten. Oder dass ich nicht ausdrücken konnte, was mich so entsetzte – es war die Art, wie die Menschen waren, wie dumme Automaten. Und meine Eltern fanden das alles ganz normal, sie fanden, dass ich auch so werden sollte – ich war schockiert. Mir blieb regelrecht die Luft weg, ich konnte einfach nicht mehr richtig atmen und ich bekam Panik – etwas geriet außer Kontrolle und meine Eltern holten den Notarzt. Der ließ sich kurz erklären was passiert war, ich hörte die skurrile Geschichte aus dem Munde meiner Eltern, die so klang, als müsste ich mich wirklich schämen. Der Doktor gab mir eine Spritze und sagte meinen Eltern, dass ich kerngesund wäre, es keinen Grund zur Sorge gäbe, das wären nur die Nerven, die Psyche, nur Einbildung, nichts weiter. Mein Gefühl war dann, dass ich meinen Eltern unendliche Schande gemacht hatte, die einen Notarzt kommen ließen, obwohl mir absolut nichts fehlte, ich einfach nur mal durchgedreht war.

Verstanden hatte damals wohl niemand etwas, weder ich, noch meine Eltern, noch der Arzt. Heute sehe ich ganz deutlich, was passiert war.

Vielleicht war diese Überdrehtheit, durch meine Wahrnehmungszusammenhänge in bestimmten Situationen auch ein Grund, für meine migräneartigen Kopfschmerzen, die ich teilweise wöchentlich hatte. Wenn das losging, musste ich die Schule verlassen. Es war unerträglich und dauerte oft 12 Stunden und länger, meist musste ich mich mehrmals übergeben und fand mich dem völlig ausgeliefert, keine Medizin konnte mir dann helfen, oder Erleichterung verschaffen. Meine Eltern waren mit mir in einer Spezialklinik zur regelmäßigen Behandlung, die ich jedesmal als Erniedrigung empfand, weil dort sozusagen meine geistige Zurechungsfähigkeit getestet wurde, ich fühlte mich behandelt, als wäre ich bisschen „plem plem“. Was meine Sorge verstärkte, die ich sowieso schon hatte, dass mit mir etwas nicht stimmte, ich vielleicht verrückt war. Ich bekam auch so kleine orange Pillen, die ich viele Jahre lang täglich nehmen musste, Divascan, oder so ähnlich hießen die, aber eine Wirkung auf meine Schmerzen hatten die nicht. Man erklärte damals, dass sich bei mir die Gefäße im Kopf verengen würden, wodurch dann die Schmerzen verursacht wurden. Die Medizin sollte dafür sorgen, dass die Gefäße künstlich weit gehalten wurden. Ich litt daran viele Jahre, am stärksten in der Kindheit, später reduzierten sich die Anfälle auf monatlich bis vierteljährlich und mit 32 Jahren hatte ich den Letzten. Aber das wäre schon wieder eine andere Geschichte.

 

Als ich 18 Jahre war, träumte ich, dass ich mich in eine Frau verliebte, der Traum war absolut real, ich sah diese Frau, ich atmete ihren Duft und war im Traum völlig verstört darüber, wie das denn sein konnte – schließlich hatte ich doch einen Freund. Zwei Tage später wurden die neuen Lehrlinge eingeführt und ich war wie vom Donner gerührt – denn da stand die Frau aus meinem Traum vor mir. Mein Körper reagierte mit heftiger Übelkeit, ich war einfach total geschockt und hatte Angst verrückt zu werden. Denn nie hatte mir jemand gesagt, dass so etwas möglich sein könnte... Ich wusste nur, dass es unmöglich sein musste, weil ja alles nur Phantasie war. Aber was tun, wenn die Phantasie plötzlich Wirklichkeit wurde? Was tun, wenn alles andere – aus meiner so genannten Phantasiewelt auch viel wirklicher werden würde, als ich je ahnte?

 

Vor dieser Liebe konnte ich nicht fliehen, ich konnte sie nicht ignorieren und nicht verdrängen, sie war ganz real da und ich lebte sie. Das Ganze fühlte sich an wie eine große Einweihung in wahre Liebe. Denn diese war nicht gebunden an Geschlechter – diese Liebe war ein Geschenk. Ein Geschenk – weil wir sie nicht willentlich machten – so wie wir sie auch nicht weg machen konnten, solange sie da war. Diese Liebe war nicht die andere Frau haben zu wollen, oder zu brauchen, für mich war sie ein plötzliches tiefes Erkennen von Einheit. Mein Spagat wurde mir wieder bewusster und doch hatte sich etwas verändert, ich litt nicht mehr unter meinem „Phantasiebein“, ich verdrängte meine Wahrnehmungen nicht mehr, sondern ich lauschte ihnen nun voller Neugier entgegen. In meinem Kopf entwarf ich ein neues Konzept von möglichen Zusammenhängen. Ich erklärte mir selber, dass es verschiedene Welten und Realitäten gab - Punkt. Dass die Realität, an die die meisten Menschen glaubten wohl die Größte sein musste, die Deutlichste – dass es aber passierte, dass plötzlich Realitäten sich kreuzten, sich vermischten, oder Teile aus der einen Realität in die andere wechselten – weil es zwischen allem eine Verbindung geben musste.

 

Wie ungeheuerlich aufregend, die Vorstellung, was alles möglich sein könnte, wenn doch das, was ich mit dieser Frau erlebt hatte, auch möglich war. In ihr hatte ich plötzlich ein Gegenüber, das zumindest teilweise in der Lage war zu sehen und zu respektieren – was ich fühlte, wie ich die Welt sah, ich war also gar nicht so verrückt wie ich dachte. Denn wir hatten an vielen Stellen ähnliche Erfahrungen gemacht und wussten beide, dass es viel, viel mehr gab als das – was uns weiß gemacht wurde. Dieses neue selbst gebackene Weltkonzept hatte zur Folge, dass ich mit meiner Mitwelt nur noch begrenzt gut zu recht kam. Vor allem mit meinen Eltern zu leben wurde mir immer befremdlicher und deshalb fast unerträglich. Wir, meine Freundin und ich, besuchten uns gegenseitig in unseren Kinderzimmern und fühlten uns wie Gefangene.

Ich spürte keinen Raum um mich, um wirklich ich selbst sein zu dürfen und sah keine Möglichkeit mein Glück über die mir so riesig erscheinenden Dimensionen des Daseins mit meinen Eltern zu teilen. Mein Bedürfnis, ihnen zu erklären was ich fühlte und damit verstanden zu werden war groß. Doch ich fühlte mich oft ohnmächtig, weil ich keine Idee hatte, mit welchen Worten ich es überhaupt erklären sollte, ohne mich lächerlich zu machen. Denn sobald ich etwas aus meinem „Phantasieleben“ Preis gab, wurde das als Unfug abgetan und regelrecht zertrampelt.

 

Heute weiß ich, dass sie keine andere Möglichkeit hatten, damit umzugehen und das sie es nicht taten, um mich zu kränken und zu verletzen. Aber damals fühlte es sich an, als trampelten sie mir auf der Seele herum und ich nahm mir fest vor, ihnen nie wieder etwas aus meinen Welten, die mir so am Herzen lagen und die sie so gar nicht verstehen konnten, anzuvertrauen. Mir wurde klar, dass ich dort weg musste, ich brauchte meine eigene Wohnung, um nicht ersticken zu müssen, bei dem Spiel – so zu tun als wäre nichts.

Eine eigene Wohnung mit 19 Jahren war Luxus und so gut wie ausgeschlossen, es sei denn man heiratete.

 

Heute würde ich sagen, da kamen mehrere Sachen zusammen, die alle dafür sorgten, dass das geschah, was geschah. So wie alles im Leben geschieht, weil an bestimmten Stellen verschiedene Gleise zusammen laufen.

Ich hatte schon seit ich 15 Jahre war einen Freund. War also mit einem Mann zusammen, der drei Jahre älter war als ich und der sich nicht hatte vom Vater Staat als Gutmensch erziehen lassen. Sondern es war einer, auf den seine Mutter aufpasste – dass er nicht so bekloppt wurde wie die anderen und alles teilte und nie an sich selber dachte. Mein Freund war anders, er hatte gelernt egoistisch zu sein, Geld und Wertsachen einen hohen Stellenwert einzuräumen und ganz und gar vom Materialismus beseelt zu sein. Ein Geschäft mit ihm zu machen hieß immer – den Kürzern zu ziehen. Aber ich liebte seinen Sinn für Humor, ich mochte seine Einfachheit und mir tat es gut, jemanden zu haben, für den scheinbar alles ganz klar war und doch ganz anders, als das, was in meiner Familie üblich war. Seine Welt war nicht größer als eine Untertasse und hatte einen klaren Rand – darüber hinaus er niemals gehen wollte und auch kein Interesse hatte, darüber hinaus zu schauen. Manchmal war ich sogar neidisch, auf diese Übersichtlichkeit, die er empfand und für mich symbolisierte. Bei mir war das durch meinen Spagat etwas ganz anderes. Außerdem stand ich mit keinem Fuß auf einer Untertasse mit klarem Rand, sondern mit beiden Füßen auf völlig nebulösen unendlich scheinenden, wolkenartigen Gebilden.

Insofern vielleicht kein Wunder, dass ich es genoss, mich an so etwas scheinbar fest Stehendem, wie meinem Freund anzulehnen. Die Illusion, bei ihm Halt zu finden, bei meinem watteweichen und unbegrenzten Lebensgefühl tat mir gut. In meinem Leben war Raum für alles Mögliche und Unmögliche – alles konnte geschehen, in jedem Moment, in seinem Leben gab es nichts Unmögliches, alles war Plan und Absicht.

Ich fragte mich oft, ob dieser Mensch wirklich der richtige Mann für mich war. Fragte mich, ob ich ihn wirklich liebte? Fragte mich aber auch, ob ich noch eine Wahl hatte, denn er war ganz und gar davon überzeugt, es war sein Plan und seine Absicht, dass ich seine Frau werden sollte. Und in mir war etwas davon überzeugt, dass ich, da ich schon mit ihm geschlafen hatte, schon gewählt hatte. Ich fühlte keine innere Erlaubnis, danach noch festzustellen, dass ich ihn doch nicht wollte, dann hätte ich ja nicht mit ihm schlafen dürfen. Ich erkannte, dass für mich das miteinander Schlafen, sich körperlich vereinigen – im Grunde die echte Hochzeit war. Alles andere, das Standesamt und die Ringe und die gemeinsame Wohnung, das waren nur Äußerlichkeiten. Also brauchte ich mir die Frage, ob ich ihn heiraten wollte, gar nicht mehr zu stellen.

Noch mehr erleichtert wurde der Schritt zum Standesamt durch die Dringlichkeit, meine eigene Wohnung haben zu wollen und dadurch, dass er bei der NVA diente. Die 1,5 Jahre Wehrpflicht schafften es, alles was meine zukünftige Schwiegermutter investiert hatte – um aus ihrem Sohn einen

„zuerst komme ICH-Menschen“ zu machen, ins Wanken zu bringen.

Die Bedingungen für die „Frischen“, vor allem im ersten Halbjahr waren so heftig, dass mein Freund sentimental wurde und sogar Gedichte schrieb. Hauptsächlich waren es nicht die Vorgesetzten, die für diesen Stimmungswandel sorgten, sondern die ehemals „Frischen“ Mitsoldaten.

Es war scheinbar einfach Sitte, dass die Neuen, „Frische“ genannt, von denen, die nun dieses Stadium verlassen hatten, nachdem sie schon ein halbes Jahr gedient hatten, nach allen Regeln der Kunst schikaniert wurden. Alles das und am besten noch Schlimmeres, was ihnen als „Frische“ angetan wurde, wurde nun den neuen „Frischen“ angetan. In meiner Wahrnehmung war das überhaupt nicht nachvollziehbar. Wie konnte ein Mensch, der unglaublich gelitten hatte unter den Schikanen seiner Mitgenossen, anderen auch so etwas antun?

Sie zwangen ihn, die Nächte auf dem Boden, vor der Tür liegend zu verbringen und jedes mal, wenn sich auf dem Flur Schritte näherten, laut zu bellen. Sie sorgten mit fiesen Tricks dafür, dass er Ausgangsverbot bekam, vor allem dann, wenn er sich mit mir treffen wollte. Sie brachten vor der Spintkontrolle seine Sachen durcheinander, oder versteckten Verbotenes darin, so dass ihn die Vorgesetzten stundenlang auf dem Hof im Dreck kriechen ließen, um ihm die fehlende Disziplin einzuprügeln. Sie pissten ihm in die Stiefel, bevor sie ins Feld zogen, so dass er drei Tage lang im feuchten Gestank waten musste. Das Ergebnis dieser gemeinen Hinterhalte war, dass mein Freund Sehnsucht nach Liebe und Frieden entwickelte und sich nach mir sehnte, mir Liebesgedichte schrieb und mich ganz schnell heiraten wollte.

Und da ich ja innerlich schon Ja gesagt hatte, tat ich das jetzt auch äußerlich und wir heirateten während des zweiten Diensthalbjahres.

 

Das äußerliche Hochzeiten gehörte zu einem meiner Mädchenträume. Ein Prinzessinnenkleid, goldene Schuhe und einen Prinzen auf dem weißen Pferd. Das Kleid war perfekt, für das, was in DDR-Zeiten zu haben war, die Schuhe waren leider nur graues weiß und nicht golden. Das mit dem Pferd hatte auch nicht geklappt, dafür fuhren wir im grünen Skoda meiner Eltern, mit von meiner Mutter liebevoll handgemachtem Blumenschmuck, der bei jeder Kurve von der Motorhaube zu rutschen drohte.

Auf dem Standesamt hielt ich den Schleier meines Brautstaußes in die Kerze, wohl weil mich die Rede der Beamtin entsetzte. Ob es deshalb war, oder warum auch immer, das kann ich heute nicht sagen, aber ich wusste in dem Moment, als ich „ja“ gesagt hatte, plötzlich genau, dass es nicht stimmte.

Ein wirklich komisches Gefühl. Alle jubeln und gratulieren und werfen Münzen und Reis und ich selber weiß – hier ist alles verkehrt. Und ich fühlte mich daran erinnert, an meinen schon gewohnten Spagat. Mit einem Bein stand ich in der Ehe und mit dem anderen war mir klar, dass das alles nicht richtig war. Doch meine Mitwelt wollte nun Hochzeit feiern, ich hatte „Ja“ gesagt, da war kein Platz für solche Gefühle und Gedanken, also verdrängte ich so gut ich konnte diese Erkenntnis und überließ mich dem Treiben der Hochzeitsfeier.

Das Beste daran war, dass ich kurze Zeit später nicht nur einen Berechtigungsschein für eine Ausbauwohnung hatte, sondern auch schon eine Wohnung dazu. Echt überraschend, denn in den meisten Fällen dauerte es Monate bis Jahre, dass ein frisch getrautes Paar eine Wohnung zugewiesen bekam. Wie der Name „Ausbauwohnung“ aber schon sagte, war es keine Wohnung, in die man einfach mal so einziehen konnte. Die Wohnung war im 5. Stock, Altbau, wie das damals hieß. Sie stand drei Jahre leer und der Vorbesitzer hatte sich in ihr erhängt. Wo und wie und warum er das tat, weiß ich bis heute nicht, weil es dazu viele verschiedene Geschichten von Leuten gab, die es alle angeblich ganz genau wussten. Es gab zwei große Zimmer, eines davon mit Berliner Ofen, ein kleines Zimmer, sowie eine Küche mit einem alten Gasherd, an dem man noch die letzten Mahlzeiten des Vorbesitzers deutlich erkennen konnte und abschrubben musste. Denn der Herd funktionierte noch und das war ein Glück. Das WC war auf halber Treppe, die wöchentlich gekehrt, gewischt und gebohnert werden musste. Die Fenster auf der Hofseite waren so marode, dass sie ausgetauscht werden mussten. Die Fenster im Wohnzimmer, auf der Straßenseite waren nur stark sanierungsbedürftig. Große Doppelfenster mit Oberlichten, an denen außen so gut wie keine Farbe mehr war, dafür blätterten sich innen so viele Farbschichten ineinander, dass kein Fenster mehr richtig schloss. Warum die Scheiben noch drin waren, war einzig den Glaserecken zu verdanken, denn Kitt war so gut wie keiner mehr dran.

An den Wänden klebten viele Schichten Tapeten und darunter waren sie bröselig wie alter Sandkuchen. Die elektrischen Kabel waren uralt und lagen Aufputz, hier brauchte es auch eine komplett Sanierung. Auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie ich diese, feuchte, stinkige Wohnung bewohnbar machen sollte – denn neue Fenster konnte man in der DDR nicht einfach kaufen und von Elektrik hatte ich keine Ahnung – nahm ich sie mit großer Freude und fühlte mich wie eine Königin mit eigenem Reich. Es dauerte auch nicht lange, da wurden diese muffigen, ekligen Zimmer zu einem wirklichen Palast. Dank meines Vaters und seines handwerklichen Geschicks, dank vieler glücklicher Zufälle, den guten Beziehungen meiner Schwiegermutter zum Fensterbauer und Dank meiner kreativen, künstlerischen Ader gelang es mit viel, viel Arbeit behagliche Räume zu erschaffen. Im Schlafzimmer bauten wir ein Hochbett mit Wendeltreppe und ich malte einen Sonnenuntergang an die Wand, die Küche wurde zum Mehrzweckraum mit Spülwanne und einklappbarem Esstisch. Heute fragen sich sicher viele Leute, was das sein soll, eine Spülenwanne. Das war eine Badewanne auf Rädern, die kompakt unter einem Spültisch eingebaut war. Bei Bedarf, zog man die Wanne einfach heraus. In unserem Fall war das nur möglich, wenn man vorher den Esstisch an die Wand klappte, weil sonst kein Platz für die Wanne war. In einem extra Fach lag die Brause, die an einen 80 Liter Elektroboiler angeschlossen war und nun konnte die große Wäsche von was auch immer losgehen.

Auch zum Wäsche waschen brauchte ich diese Wanne, denn unsere damalige Waschmaschine war wenig vollautomatisch. Es war eher ein großer Wasserkocher mit Temperaturregler und Rührquirl von AKA-Elektrik. Auf Knopfdruck füllte sie sich mit Wasser und auf Knopfdruck machte sie das Wasser heiß, rührte die Wäsche um und wenn genug gerührt war, musste man wieder einen Knopf drücken, damit das Schmutzwasser abgepumpt wurde. Die Spülgänge waren ähnlich, nur ließ man die Maschine nicht so lange herumrühren, wie zum Waschen. Am Ende hatte man im besten Falle saubere, sehr nasse Wäsche, die es nun galt auszuwringen, um sie in den Hof hinunter zu tragen, zum auf die Leine Hängen. In unserer Spülwanne stand eine Wäscheschleuder auf einem aufgeblasenen Gummiring bereit, in die ich die nasse Wäsche stopfen konnte und die das Auswringen für mich, mit viel Krach und Gerüttel, bei dem die ganze Küche vibrierte, erledigte. Das Wasser lief in die Wanne, die auch einen Knopf hatte – auf den man drückte, um das Wasser aus der Wanne abzupumpen.

 

Im Wohnzimmer installierte ich mit Hilfe meines Schwagers eine Anbauwand, die ganz anders war, als das DDR-übliche. Normalerweise mussten solche Möbelteile wie Schlafzimmer, Küchen und Anbauwände Monate oder Jahre vorher bestellt werden – doch ich hatte einfach Glück. Damals wusste ich noch genau warum ich Glück hatte, aber heute habe ich das vergessen. Ich war nicht Mitglied der SED, daran konnte es also nicht gelegen haben – denn diesen Mitgliedern wurde vom Staate, unter besonderen Umständen, auch mal zu solcher Art Glück verholfen. Ich glaube es hatte mit meiner Schwiegermutter zu tun, die es geschafft hatte, trotz VEB und Konsum, ihr privates, seit Generationen geführtes Lebensmittelgeschäft mitten in der DDR weiter zu führen. Dies gab ihr in der Kleinstadt so eine Art Königinnenposition. Denn in ihren Schatzkammern hatte sie immer Dinge, die andere gerne gehabt hätten und die sich als Tauschmittel, für alles was legal nicht zu bekommen war, bestens eigneten, wie z.B. Fenster, oder neue ganz besonders modische Anbauwände.

So konnte ich schon nach wenigen Wochen die neuen, schicken, dunklen Schränke an die Wand schrauben. Wenn ich daran zurück denke, habe ich sofort wieder diesen unverkennbaren Geruch der neuen Möbel in der Nase. Mit Raumteiler und Barteil mit Beleuchtung – das Ganze kombiniert mit einem alten runden Tisch und alten Stühlen – sah richtig besonders und behaglich aus. Ganz anders, als die meisten Plattenbauwohnzimmer, die ich kannte.

Die Fenster bemalte ich dunkelgrün und die Wände lindgrün, die Decke weiß und die großen, alten Türen weiß mit dunkelgrün. Der Flur wurde dunkelrot mit weiß und gold und das WC auf halber Treppe bekam violette Schmetterlinge an die Wände.

Mein Mann konnte so gut wie nichts tun, weil er ja dienen musste, so dass ich die Wohnung so gestalten konnte, als wäre sie für mich allein. Ich war glücklich! Es war so wunderbar allein zu sein, raus aus dem Kinderzimmer. Weg von der ständigen Kontrolle meiner Eltern. Niemandem musste ich mehr sagen was ich tat, woher ich kam, wohin ich ging. Niemand mehr, dem zu liebe ich mich anpassen oder verbiegen musste. Niemanden mehr, vor dem ich mich rechtfertigen und erklären musste. Ich konnte endlich, endlich einfach sein – so wie ich war, so wie mir gerade war. Konnte schlafen und essen wann ich wollte, konnte kommen und gehen wann ich wollte, konnte singen und tanzen wie ich wollte. Ein Fest! Ich genoss diese Zeit in vollen Zügen und ich fühlte mich so frei, so wunderbar. So als hätte ich sämtliche Fesseln von mir geworfen, als atmete ich zum ersten mal wirklich tief und weit.

 

Alles was ich tat, tat ich mit diesem Genuss. Ich kaufte ein für mich, nur das, was ich wirklich mochte. Ich putze mit Freude und Hingabe, ich kochte was ich gern aß und wusch meine Wäsche und jeder Handgriff war mir ein Vergnügen, weil ich alles so tun konnte, wie ich es wollte. Ich musste nichts mehr tun, wie „man“ es tat – sondern ich durfte selber denken und selber entscheiden und das tat ich auch. Ich machte vieles anders, als „man“ es machte. Ich zog meine Betten ab und wusch die Wäsche auf links, hängte sie links auf, legte sie links in den Schrank und zog sie dann links wieder auf. Und fragte mich – wieso jemals jemand auf die Idee kam, dieses Theater um die Bettwäsche zu machen, wie ich es von zu Hause kannte. Wäsche abziehen, Wäsche auf rechts drehen, Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, Wäsche legen, Wäsche rollen oder Bügeln, Wäsche in den Schrank... und dann beim Betten beziehen - Bettwäsche erst mal wieder auf links drehen, Bett einziehen und dann so ein steifes, unsympathisches Bett haben, bis man es in zwei drei Nächten geschafft hatte, es wieder zu zerknittern und gemütlich zu machen.

Und solche profanen Dinge gab es viele. Ich fand heraus, das dass Leben viel leichter ist, wenn man selber denkt und die Dinge nicht extra kompliziert macht, nur weil „man“ das so machte. Ich lernte, zu essen wenn ich Hunger hatte und nicht, weil „man“ zu dieser Zeit etwas essen musste. Und ich lernte zu schlafen, wenn ich müde war und nicht, weil Zeit zum schlafen war.

Ich lernte auch, mich mit Leuten zu treffen, die ich gerne treffen wollte und nicht mehr Leute zu treffen, weil ich sie treffen sollte. Ich bekam eine Ahnung von dem, was möglich wäre, wenn ich mich wirklich von all diesem sinnlosen „müssen“ befreien könnte und sah wie viel es da noch gab – was automatisch bei mir ablief, was ich noch gar nicht begonnen hatte zu hinterfragen.

Das Leben war spannend und mein Ziel war, es zu leben, indem ich es immer mehr entlarvte, in dem ich immer mehr dahinter schaute, was sich da eigentlich abspielte – bei mir selbst, im Kleinen und im Großen und in der Welt.